DER SPIEGEL: Artikel zum Thema Wachstumskritische Unternehmen
SPIEGEL ONLINE, 14.05.2012 // Wachstumskritische Unternehmen
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Von David Böcking
Hamburg - Die Bilanz des vergangenen Jahres? Gefällt Susanne Henkel gar nicht. Um 18 bis 19 Prozent sei der Umsatz 2011 gewachsen. "Isch viel zu viel", sagt die Unternehmerin aus dem schwäbischen Forchtenberg. In diesem Jahr seien nur fünf bis sechs Prozent zu erwarten. Das sei doch eine tolle Zahl. "Und normal!"
Henkel, Geschäftführerin eines Herstellers von Stahlrohrmöbeln, gehört zu einer seltenen Spezies: Unternehmer, die bewusst auf Wachstum verzichten. Der 1922 von Henkels Vater gegründete Betrieb hat 50 Mitarbeiter, "schon immer", wie sie sagt. An einer Expansion hat Henkel kein Interesse. "Für uns ist Umsatzwachstum nicht mehr das richtige Ziel."
Henkels Einstellung passt zum Zeitgeist, überraschend ist sie trotzdem. Zwar ist das Wirtschaftswachstum in die Kritik geraten , Politik und Experten suchen nach alternativen Zielen . Doch dass sich auch Unternehmer vom Wachstum lossagen , ist bislang die Ausnahme. Entsprechend viel Aufsehen erregte Winfried Kretschmann . Kurz nach seiner Wahl verkündete Baden-Württembergs grüner Landesvater im vergangenen Jahr: "Weniger Autos sind natürlich besser als mehr."
Das war nicht nur eine gewagte Aussage, weil Kretschmann nun das Heimatland von Daimler und Porsche regiert. Bislang gibt es auch kaum Vorbilder dafür, wie Unternehmen ohne Wachstum funktionieren sollen. Sei es um Kredite abzubezahlen oder um Entlassungen zu vermeiden, obwohl dieselben Mengen mit immer weniger Mitarbeitern produziert werden können : In der bestehenden Wirtschaftsordnung sind Firmen eigentlich auf Wachstum angewiesen.
Immerhin gibt es erste Wissenschaftler, die über eine sogenannte Postwachstumsökonomie nachdenken. Einer von ihnen ist André Reichel von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. "Als Postwachstums-Betriebswirt setze ich mich zwischen alle Stühle", sagt er. "Weil ich das bisherige Wachstum ablehne, aber auch eine staatlich verordnete Alternative." In der Betriebswirtschaft sei Forschung zum Thema bislang "fast nicht existent".
Doch bei Praktikern wie Susanne Henkel zeichnen sich erste Prinzipien des Postwachstumsunternehmers ab: Qualität, Effizienz und Service.
Schüchterne Fragen nach Ersatzteilen
Der Klassiker von Henkel sind Stahlrohrliegen, die in vielen Schwimmbädern stehen. Sie werden von Hand bespannt, bestehen aus hochwertigen Materialien, beim Produktdesign berät ein Bionik-Experte. Das alles folgt Henkels Motto: "Wertiger werden".
Streng genommen setzt die 59-Jährige weiterhin auf Wachstum, jedoch auf qualitatives: Die Gewinne sollen nicht aus immer höheren Verkaufszahlen stammen, sondern aus verbesserten Produkten - die dann höhere Preise rechtfertigen. Ihre Erträge steigert Henkel außerdem, indem sie die Technik modernisiert. So baute das Unternehmen eine neue Druckluftanlage ein, die den Stromverbrauch um nahezu die Hälfte reduziert.
Und dann hat die Firma noch ein besonderes Verkaufsargument: Zu jeder Liege bietet Henkel lebenslang Reparaturen an, inklusive Neubespannung und Umlackierung. So etwas ist heute nicht selbstverständlich, weiß Henkel. Fast schüchtern würden viele Kunden nach Ersatzteilen fragen. "Wenn wir dann sagen: 'Selbstverständlich, welche Farbe hätten sie gerne?', flippen die schier aus." Immerhin die Hälfte des Neupreises zahlen Kunden für die Überarbeitung, dennoch hat sich das Geschäft mit dem Service in der Krise mehr als verdoppelt. Damit schaffte es Henkel trotz Umsatzeinbruch, den Gewinn stabil zu halten.
Reparieren statt neu kaufen. Dass das in der Wegwerfgesellschaft ein Alleinstellungsmerkmal ist, haben auch andere erkannt. Der amerikanische Outdoor-Hersteller Patagonia bietet seinen Kunden einen Vertrag an: Das Unternehmen verspricht hochwertige Produkte und Service, die Kunden versprechen, nur zu kaufen, was sie wirklich brauchen und ihre Ware reparieren und notfalls recyceln zu lassen. "Kaufen Sie diese Jacke nicht" lautet das Motto einer Patagonia-Kampagne.
Solche Slogans mögen für einzelne Anbieter funktionieren, die über passende Produkte und die richtige, konsumkritische Klientel verfügen. Doch sind sie auch ein Modell für eine ganze Volkswirtschaft - erst recht in einem Land wie Deutschland, das einen großen Teil seines Wohlstands immer noch der Industrie verdankt? Anders gesagt: Sind weniger Autos wirklich besser?
Ökonom Reichel, selbst Mitglied der Grünen, hat das Credo seines Parteifreunds Kretschmann in die Praxis übersetzt. Zusammen mit einer Kollegin entwarf er eine neue Kennzahl für die deutsche Autoindustrie. Am Beispiel von Daimler kalkulierten die Forscher, wie viel CO2 ein einzelnes Fahrzeug ausstoßen darf, damit die Erderwämung unter dem sogenannten Zwei-Grad-Ziel bleibt. Dann entwarfen sie verschiedene Geschäftsmodelle und bezogen dabei einen Service ein, den Daimler und andere schon heute anbieten: Carsharing .
Kartelle für den Umweltschutz?
Das Ergebnis der Studie: Idealerweise würde sich die Zahl der deutschen Autos um fast ein Viertel verringern, ihre Effizienz zugleich um 50 Prozent steigen und es gäbe rund vier Millionen Carsharing-Fahrzeuge. In diesem Fall würde der Berechnung zufolge nicht nur das CO2-Limit eingehalten. Die Autoindustrie könnte mit Hilfe des Carsharing auch 98 Prozent ihrer Bruttowertschöpfung sichern. Auch weniger Wachstum bedeute also "nicht das Ende von ökonomischer Vernunft oder ordentlichen Gewinnen", schreiben die Autoren.
Doch selbst wenn ein Unternehmen das Modell übernehmen würde: Niemand garantiert ihm, dass Konkurrenten nicht weiter auf herkömmliches Wachstum setzen und damit erfolgreicher sind. Deshalb dürften sich auch die eigenen Aktionäre kaum von solch einem riskanten Plan überzeugen lassen.
Wie sich dieses Problem überwinden lässt, erforscht eine Gruppe um den früheren Wirtschaftsweisen Gerhard Scherhorn. Sie fordert eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen. Der Kern: Künftig sollen Unternehmen nicht mehr wachsen, indem sie Gemeingüter wie die Atemluft oder Bodenschätze im Übermaße nutzen.
"Man muss beim einseitigen Schutz des Privateigentums ansetzen", sagt Scherhorn. Die beliebige Verfügung über den privaten Besitz, garantiert im Bürgerlichen Gesetzbuch, dürfe nicht länger zu Lasten von Gemeingütern gehen. Auch im Aktiengesetz soll Unternehmen untersagt werden, dass sie ihren Gewinn auf Kosten der Allgemeinheit steigern.
Das Wettbewerbsrecht wollen Scherhorn und seine Mitstreiter ebenfalls ändern. Das verbietet eigentlich Kartelle, also Absprachen unter Unternehmern. Künftig sollen diese aber dann erlaubt sein, wenn sich Firmen so auf eine Schonung von Gemeingütern einigen. "Solche Absprachen zu erlauben, wäre das geringste Problem", glaubt Scherhorn. Schließlich seien schon heute sogenannte Rationalisierungskartelle möglich, die Unternehmen beim Kostensparen helfen.
Doch unproblematisch dürfte die Ideen nicht jeder finden. Schließlich ist das möglichst unbehinderte Streben nach Wachstum ein Grundprinzip der Marktwirtschaft. Wo es eingeschränkt wird, fürchten Ökonomen nicht nur um den Wohlstand. Sie bangen auch um Innovationen, die Unternehmen im Wettstreit miteinander hervorbringen.
Ökonomen wie André Reichel halten dagegen, dass in westlichen Ländern die Postwachstumsgesellschaft so oder so komme - schon weil durch den demografischen Wandel die Zahl von Produzenten und Konsumenten zurückgeht. Susanne Henkel spürt das bereits. Selbst wenn sie expandieren wollte: Die Arbeitslosenquote in ihrem Landkreis liegt bei nur drei Prozent. "Wo wollen Sie da kompetente Leute herbekommen?"
Innovationen wird es nach Ansicht von Reichel dennoch weiter geben. "Die Postwachstumswirtschaft wird sehr wettbewerbsintensiv sein", vermutet er. "Unternehmen, die Ideen haben, werden auch weiterhin wachsen. Aber das Wachstum des einen wird die Schrumpfung des anderen bedeuten." Noch fehlten freilich Unternehmer, die das neue Modell auch vorleben. Deshalb fordert Reichel: "Wir brauchen einen Steve Jobs der Postwachstums-Ökonomie!"
- Blog von Ralph Böhlke
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